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In der Welt zuhause

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Aus den „Sichtweisen“, Ausgabe 9/2021

Meine Schulgeschichte ist kompliziert: Ich bin bis zur vierten Klasse auf eine internationale Schule in Nagoya, Japan, gegangen. Danach habe ich auf Hawaii bis zur sechsten Klasse eine Privatschule besucht. Dort wurde ich viel wegen meiner Sehbehinderung geärgert und habe deswegen eine Waldorfschule in Honolulu besucht. Da sich meine Sehkraft verschlechterte, zogen meine Mutter und ich zurück nach Tokio, damit mich dort ein Spezialist behandeln konnte. Die neunte Klasse verbrachte ich auf einer internationalen Schule in Tokio. Nach einem weiteren Jahr auf Hawaii ging ich im zehnten und elften Schuljahr auf ein Gymnasium in Köln – als privater Austauschschüler. Das Abitur machte ich schließlich auf einer deutschen Schule in Yokohama. Auf Hawaii waren wir, weil mein Vater als Geschäftsführer einer japanischen Reisebürofiliale dorthin versetzt worden war. Es war für meine Familie eine traumhafte Zeit. Wir hatten viel Besuch von Verwandten und Freunden, auch aus Deutschland – sie wurden später meine Gasteltern in Köln. Wir hatten sie in Australien kennengelernt. Obwohl ich Japaner bin, habe ich nur etwa zehn Jahre in Japan und viel mehr Zeit im Ausland verbracht. Daher fühle ich mich sehr westlich, am meisten amerikanisch, geprägt. Ich fühle mich aber überall zu Hause – wo ich gerade zufällig bin. In Köln fühle ich mich besonders wohl, weil ich als Kind schon hier war. Japanisch ist meine Muttersprache, aber ich habe fast gleichzeitig Englisch gelernt. Darum fiel es mir nicht so schwer, Deutsch zu lernen. Als ich als 15-Jähriger nach Köln kam, konnte ich nach einem halben Jahr in der Schule mithalten. Noch heute lerne ich dennoch viel Neues in der deutschen Sprache. Da meine Sehbehinderung relativ leicht ist, kam ich damit gut klar. In der Klasse saß ich ganz vorne, sodass ich die Tafel sehen konnte. Wenn das nicht ging, bin ich nach dem Unterricht an die Tafel gegangen und habe in einem Heft notiert, was da stand. Ich konnte auch Fahrrad fahren und andere Dinge mit Freunden machen.

Tablet als Notenpult Als ich zehn Monate alt war, reagierte ich allergisch auf Penicillin. Darauf bekam ich eine Hauterkrankung, durch die meine Wimpern nach innen wuchsen und die Hornhaut zerkratzten. Deswegen kann ich nicht so gut sehen. Seitdem ich Teenager bin, trage ich weiche Kontaktlinsen, um meine Augen zu schützen. Meine Sehstärke liegt zwischen 30 und 50 Prozent. Damit komme ich klar. Beim Musizieren nutze ich seit einigen Jahren ein iPad als Notenpult, was sich als sehr praktisch erwiesen hat. In Amerika habe ich Musik (Violine) studiert. Seit dem Masterstudium bin ich auf die historische Aufführungspraxis spezialisiert, wobei man in der Spielweise der jeweiligen Musikepoche spielt. Nachdem ich 2012 meine Promotion in den USA absolviert hatte, ging ich wieder nach Köln, weil die Stadt ein Zentrum der sogenannten Alten Musik ist. Zwei weitere Jahre habe ich dort die Musikhochschule besucht. Die historische Spielweise hat interessante philosophische Folgen, wie die Tatsache, dass man heute Musik überhaupt nicht hören kann wie damals. Die Leute lebten einfach anders. Wenn man ganz historisch getreu spielen wollte, dürften Frauen und nicht-weiße Menschen wie ich nicht spielen. Und wir müssten bei Kerzenlicht von handgeschriebenen Noten spielen. Bachkantaten dürften nicht in Konzertsälen aufgeführt werden. Es ist eine etwas künstliche Welt, ein Musikideal, bei dem jeder eine Grenze ziehen muss. Trotzdem, wie man Schichten von Staub auf einem Gemälde entfernen kann, ist es eine wertvolle Arbeit, ein Werk im Originalkontext – Klang, Instrumente, Spielweise, Darstellung – zu erleben. Ich mag Musik, die so gespielt wird. Das Konzept der historischen Aufführungspraxis hört nicht beim Tod Bachs auf, sondern geht bis in die heutige moderne Musik – die Musik wird nach den ästhetischen Werten der jeweiligen Zeit aufgeführt, und so klingen Komponisten und Epochen anders. Musik bedeutet für mich also eine Differenzierung der Stile, Komponisten und des historischen Kontextes. Musik, die solche Aspekte nicht berücksichtigt, klingt für mich nicht richtig. Seit 2013 bin ich Stammspieler in einem Orchester für Alte Musik in Leverkusen: l’arte del mondo. Wir geben ungefähr 40 Konzerte im Jahr. Viele Tourneen durch Europa und im außereuropäischen Ausland mit Solisten wie Daniel Hope und Dorothee Oberlinger sowie zahlreiche CD-Aufnahmen sind einige der Highlights. Dank meiner musikwissenschaftlichen Kenntnisse habe ich eine zusätzliche Position inne und darf den Leiter des Ensembles, Werner Ehrhardt, künstlerisch beraten. Dazu spiele ich als Konzertmeister und Leiter eines Laienorchesters, dem Rodenkirchener Kammerchor und Orchester, in dem ich schon als Gymnasialschüler mitgewirkt habe. Einige Leute von damals singen und spielen noch dort, und es macht mir viel Spaß, wieder mit ihnen musizieren zu können.

„Viele waren am Ende“ Es ist für mich und alle meine Kollegen und Freunde schmerzlich, dass wir so lange nicht auftreten konnten. Durch die Corona-Schutzverordnungen sind bzw. waren viele von uns am Ende, verzweifelt und genervt, auch wenn wir Soforthilfen und Stipendien erhalten haben. Ich habe drei Stipendien für verschieden Projekte bewilligt bekommen. Eines davon ist vom Deutschen Musikrat, und es wurden nur 1.600 Musiker aus ganz Deutschland dafür ausgewählt. Das Leverkusener Ensemble l’arte del mondo hat auch Mittel bekommen und während der Pandemiezeit Videos gedreht und mit anderen Künstlern virtuell musiziert. Für diese Möglichkeiten sind wir dankbar. Ich wünsche mir aber, dass die Politik ein flächendeckendes Programm macht und nicht nur Hilfe für ausgewählte Projekte leistet. Wir alle freuen uns, dass es bald wieder auf der Bühne losgehen kann. Die digitalen Möglichkeiten sind toll, aber sie können nie ein Livekonzert ersetzen. Die Kultur ist für das Überleben eines Volkes nicht erforderlich, aber sie ist für das Menschsein und die Bereicherung einer Gesellschaft unentbehrlich. Deutschland muss Kulturstaat bleiben. In Japan funktioniert die Gesellschaft nach dem Prinzip des „Wa“. Das bedeutet in etwa Frieden oder Harmonie. Alles, was nicht diesem Prinzip entspricht, also als nicht-normal betrachtet wird, wird stigmatisiert. Dazu gehören auch Personen mit Behinderungen. Früher war es schlimmer, langsam wird es besser. Trotzdem ist es immer noch sehr schwierig, dass Menschen mit Behinderung in die japanische Gesellschaft integriert werden. Auch freiberuflich zu arbeiten, gilt in Japan als nicht normal. Normal wäre es, beispielsweise einem Bürojob in einer angesehenen Firma nachzugehen. Selbst meine Eltern, die durch ihr kosmopolitisches Leben relativ offen sind, brauchten eine Weile, bis sie verstanden hatten, was freiberuflich bedeutet, und dass es auch ein „anständiger“ Beruf ist. In den USA werden Menschen mit Behinderung weitgehend gleichberechtigt behandelt. Zumindest auf dem Papier; in der Praxis gibt es natürlich Diskriminierung. In der Sprache wird zum Beispiel „handicapped“ und Ähnliches gesagt statt politisch korrekt „differently abled“. Deutschland steht irgendwie – auch bei anderen sozialen Dingen – in der Mitte. Es gibt engagierte soziale Institutionen und Gesetze, die Menschen mit Behinderung schützen. Aber in Köln zum Beispiel sehe ich einen Mangel an barrierefreien Verkehrsmitteln und Ampeln. Auch die Pfeiler auf dem Bürgersteig könnten besser gekennzeichnet werden. Besonders nachts sind sie schwierig zu sehen, wenn darauf keine Reflektionsstreifen sind. Meine Sehstärke im Dunkeln hat abgenommen, und ich muss nachts vorsichtiger sein. Das Leben in Deutschland finde ich alles in allem sehr angenehm.

Go Yamamoto (42) lebt in Köln.

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Meine Schulgeschichte ist kompliziert: Ich bin bis zur vierten Klasse auf eine internationale Schule in Nagoya, Japan, gegangen. Danach habe ich auf Hawaii bis zur sechsten Klasse eine Privatschule besucht. Dort wurde ich viel wegen meiner Sehbehinderung geärgert und habe deswegen eine Waldorfschule in Honolulu besucht. Da sich meine Sehkraft verschlechterte, zogen meine Mutter und ich zurück nach Tokio, damit mich dort ein Spezialist behandeln konnte. Die neunte Klasse verbrachte ich auf einer internationalen Schule in Tokio. Nach einem weiteren Jahr auf Hawaii ging ich im zehnten und elften Schuljahr auf ein Gymnasium in Köln – als privater Austauschschüler. Das Abitur machte ich schließlich auf einer deutschen Schule in Yokohama. Auf Hawaii waren wir, weil mein Vater als Geschäftsführer einer japanischen Reisebürofiliale dorthin versetzt worden war. Es war für meine Familie eine traumhafte Zeit. Wir hatten viel Besuch von Verwandten und Freunden, auch aus Deutschland – sie wurden später meine Gasteltern in Köln. Wir hatten sie in Australien kennengelernt. Obwohl ich Japaner bin, habe ich nur etwa zehn Jahre in Japan und viel mehr Zeit im Ausland verbracht. Daher fühle ich mich sehr westlich, am meisten amerikanisch, geprägt. Ich fühle mich aber überall zu Hause – wo ich gerade zufällig bin. In Köln fühle ich mich besonders wohl, weil ich als Kind schon hier war. Japanisch ist meine Muttersprache, aber ich habe fast gleichzeitig Englisch gelernt. Darum fiel es mir nicht so schwer, Deutsch zu lernen. Als ich als 15-Jähriger nach Köln kam, konnte ich nach einem halben Jahr in der Schule mithalten. Noch heute lerne ich dennoch viel Neues in der deutschen Sprache. Da meine Sehbehinderung relativ leicht ist, kam ich damit gut klar. In der Klasse saß ich ganz vorne, sodass ich die Tafel sehen konnte. Wenn das nicht ging, bin ich nach dem Unterricht an die Tafel gegangen und habe in einem Heft notiert, was da stand. Ich konnte auch Fahrrad fahren und andere Dinge mit Freunden machen.

Tablet als Notenpult Als ich zehn Monate alt war, reagierte ich allergisch auf Penicillin. Darauf bekam ich eine Hauterkrankung, durch die meine Wimpern nach innen wuchsen und die Hornhaut zerkratzten. Deswegen kann ich nicht so gut sehen. Seitdem ich Teenager bin, trage ich weiche Kontaktlinsen, um meine Augen zu schützen. Meine Sehstärke liegt zwischen 30 und 50 Prozent. Damit komme ich klar. Beim Musizieren nutze ich seit einigen Jahren ein iPad als Notenpult, was sich als sehr praktisch erwiesen hat. In Amerika habe ich Musik (Violine) studiert. Seit dem Masterstudium bin ich auf die historische Aufführungspraxis spezialisiert, wobei man in der Spielweise der jeweiligen Musikepoche spielt. Nachdem ich 2012 meine Promotion in den USA absolviert hatte, ging ich wieder nach Köln, weil die Stadt ein Zentrum der sogenannten Alten Musik ist. Zwei weitere Jahre habe ich dort die Musikhochschule besucht. Die historische Spielweise hat interessante philosophische Folgen, wie die Tatsache, dass man heute Musik überhaupt nicht hören kann wie damals. Die Leute lebten einfach anders. Wenn man ganz historisch getreu spielen wollte, dürften Frauen und nicht-weiße Menschen wie ich nicht spielen. Und wir müssten bei Kerzenlicht von handgeschriebenen Noten spielen. Bachkantaten dürften nicht in Konzertsälen aufgeführt werden. Es ist eine etwas künstliche Welt, ein Musikideal, bei dem jeder eine Grenze ziehen muss. Trotzdem, wie man Schichten von Staub auf einem Gemälde entfernen kann, ist es eine wertvolle Arbeit, ein Werk im Originalkontext – Klang, Instrumente, Spielweise, Darstellung – zu erleben. Ich mag Musik, die so gespielt wird. Das Konzept der historischen Aufführungspraxis hört nicht beim Tod Bachs auf, sondern geht bis in die heutige moderne Musik – die Musik wird nach den ästhetischen Werten der jeweiligen Zeit aufgeführt, und so klingen Komponisten und Epochen anders. Musik bedeutet für mich also eine Differenzierung der Stile, Komponisten und des historischen Kontextes. Musik, die solche Aspekte nicht berücksichtigt, klingt für mich nicht richtig. Seit 2013 bin ich Stammspieler in einem Orchester für Alte Musik in Leverkusen: l’arte del mondo. Wir geben ungefähr 40 Konzerte im Jahr. Viele Tourneen durch Europa und im außereuropäischen Ausland mit Solisten wie Daniel Hope und Dorothee Oberlinger sowie zahlreiche CD-Aufnahmen sind einige der Highlights. Dank meiner musikwissenschaftlichen Kenntnisse habe ich eine zusätzliche Position inne und darf den Leiter des Ensembles, Werner Ehrhardt, künstlerisch beraten. Dazu spiele ich als Konzertmeister und Leiter eines Laienorchesters, dem Rodenkirchener Kammerchor und Orchester, in dem ich schon als Gymnasialschüler mitgewirkt habe. Einige Leute von damals singen und spielen noch dort, und es macht mir viel Spaß, wieder mit ihnen musizieren zu können.

„Viele waren am Ende“ Es ist für mich und alle meine Kollegen und Freunde schmerzlich, dass wir so lange nicht auftreten konnten. Durch die Corona-Schutzverordnungen sind bzw. waren viele von uns am Ende, verzweifelt und genervt, auch wenn wir Soforthilfen und Stipendien erhalten haben. Ich habe drei Stipendien für verschieden Projekte bewilligt bekommen. Eines davon ist vom Deutschen Musikrat, und es wurden nur 1.600 Musiker aus ganz Deutschland dafür ausgewählt. Das Leverkusener Ensemble l’arte del mondo hat auch Mittel bekommen und während der Pandemiezeit Videos gedreht und mit anderen Künstlern virtuell musiziert. Für diese Möglichkeiten sind wir dankbar. Ich wünsche mir aber, dass die Politik ein flächendeckendes Programm macht und nicht nur Hilfe für ausgewählte Projekte leistet. Wir alle freuen uns, dass es bald wieder auf der Bühne losgehen kann. Die digitalen Möglichkeiten sind toll, aber sie können nie ein Livekonzert ersetzen. Die Kultur ist für das Überleben eines Volkes nicht erforderlich, aber sie ist für das Menschsein und die Bereicherung einer Gesellschaft unentbehrlich. Deutschland muss Kulturstaat bleiben. In Japan funktioniert die Gesellschaft nach dem Prinzip des „Wa“. Das bedeutet in etwa Frieden oder Harmonie. Alles, was nicht diesem Prinzip entspricht, also als nicht-normal betrachtet wird, wird stigmatisiert. Dazu gehören auch Personen mit Behinderungen. Früher war es schlimmer, langsam wird es besser. Trotzdem ist es immer noch sehr schwierig, dass Menschen mit Behinderung in die japanische Gesellschaft integriert werden. Auch freiberuflich zu arbeiten, gilt in Japan als nicht normal. Normal wäre es, beispielsweise einem Bürojob in einer angesehenen Firma nachzugehen. Selbst meine Eltern, die durch ihr kosmopolitisches Leben relativ offen sind, brauchten eine Weile, bis sie verstanden hatten, was freiberuflich bedeutet, und dass es auch ein „anständiger“ Beruf ist. In den USA werden Menschen mit Behinderung weitgehend gleichberechtigt behandelt. Zumindest auf dem Papier; in der Praxis gibt es natürlich Diskriminierung. In der Sprache wird zum Beispiel „handicapped“ und Ähnliches gesagt statt politisch korrekt „differently abled“. Deutschland steht irgendwie – auch bei anderen sozialen Dingen – in der Mitte. Es gibt engagierte soziale Institutionen und Gesetze, die Menschen mit Behinderung schützen. Aber in Köln zum Beispiel sehe ich einen Mangel an barrierefreien Verkehrsmitteln und Ampeln. Auch die Pfeiler auf dem Bürgersteig könnten besser gekennzeichnet werden. Besonders nachts sind sie schwierig zu sehen, wenn darauf keine Reflektionsstreifen sind. Meine Sehstärke im Dunkeln hat abgenommen, und ich muss nachts vorsichtiger sein. Das Leben in Deutschland finde ich alles in allem sehr angenehm.

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